10. Januar 2016

Kilgrave und der Ring des Gyges


Kilgrave, der Bösewicht in der Netflix-Serie „Jessica Jones“ besitzt die Fähigkeit, andere Menschen durch bloßes Äußern einer Anweisung das machen zu lassen, was er von ihnen will, und sei es noch so abseitig. Ein Beispiel: als er nach Jahrzehnten seine ungeliebte Mutter wiedersieht, dauert es nur wenige Minuten, bis er ihr das Kommando gibt, sich mit einer Schere selbst zu töten. Da sie nicht anders kann, als ihm zu gehorchen, folgt sie dieser Anweisung, ohne zu zögern. Genauso gut kann er seine Kraft natürlich auch einsetzen, um sich Geld zu besorgen, seine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen oder – mal etwas Konstruktives – eine Geiselsituation zu entschärfen.


Das ist eine Fähigkeit, die ihrem Träger nahezu eine Allmacht verleiht. Mich hat sie an eines der ersten Gedankenexperimente der Philosophiegeschichte erinnert, den Ring des Gyges in Platons „Staat“. Glaukon, einer der Gesprächspartner von Sokrates in diesem Dialog, stellt ungefähr folgende These auf: Moral ist eine Konstruktion, um miteinander in Frieden und Sicherheit leben zu können. Sie basiert damit auf der Voraussetzung, dass wir uns gegenseitig Schaden zufügen können und uns davor schützen wollen. Gesetzt den Fall aber, jemand wäre so mächtig, dass er dieses Schutzes nicht bedürfte, gäbe es für diese Person auch keinerlei Grund mehr, nicht einfach immer genau das zu tun, was sie will. Man wäre im Gegenteil recht blöde, wenn man es nicht täte, denn, so Glaukon, wenn wir ehrlich sind, ist es viel lohnender, Unrecht statt Recht zu tun. Mit anderen Worten, Moral ist ein Bedürfnis und Instrument der Schwachen, für die Starken hat es keine Berechtigung. Glaukon illustriert dies mit dem Beispiel eines Ringes, der seinen Träger nach Bedarf unsichtbar macht und behauptet, dass niemand, der einen solchen Ring besäße, sich noch an moralische Normen gebunden fühlen würde. Genau das ist ja auch die Schlussfolgerung von Kilgrave.

Was immer Recht, Unrecht, Normen oder Werte inhaltlich bedeuten mögen, die Interessen anderer werden dabei eine wichtige Rolle spielen. Gibt es nun Gründe, nicht einfach das zu tun, was man will, sondern auf solche Interessen Rücksicht zu nehmen? Bestimmte offensichtliche Gründe gibt es natürlich, z.B. dass Gesellschaft ein kooperatives Unternehmen ist, von dem wir nur dann profitieren, wenn wir uns an bestimmte Normen halten oder dazu gezwungen werden. Dies ist der Kerngedanke bei Thomas Hobbes und Glaukon deutet ja eine ähnliche Position an. Für eine Figur wie Kilgrave wäre das allerdings kein stichhaltiger Grund, er ist schließlich nicht auf Kooperation angewiesen, zumindest nicht insoweit er keinen Wert auf engere Beziehungen zu anderen Menschen legt. Möglicherweise ist er auch mal gut drauf oder hat Mitleid mit anderen. Aber das sind zufällige Faktoren. Was, wenn er diese Empathie nicht verspürt, wenn ihm andere einfach egal sind, vor allem, wenn sie ihm irgendwie im Wege stehen? Platon war natürlich dezidiert der Ansicht, es gebe solche Gründe und entwickelte eine Theorie, wonach wir uns vom besten Teil unserer Seele leiten lassen sollten. Dieser Anteil der Seele ist allerdings deshalb der beste, weil wir damit Einsicht in unvergängliche Werte erlangen und dass es so etwas überhaupt gibt, hat Platon nicht wirklich überzeugend darlegen können. Auch viele weitere Philosophen bis in die Gegenwart sind der Meinung, dass es solche Gründe gibt. Viele andere allerdings auch nicht.

Kilgrave und Glaukons Beispiel mit dem Ring sind nicht nur ein Gedankenexperiment. Wir mögen keine Superkräfte haben wie die Figuren aus den Marvel-Comics, eindeutige Machtverhältnisse gibt es aber bei uns in allen möglichen Lebensbereichen, in der Familie, im Beruf, zwischen Staaten, zwischen Mensch und Tier usw. Und immer dann, wenn ein solches Verhältnis besteht, das einer Seite ein Vorgehen erlaubt, gegen das sich die andere Seite nicht wehren kann, stellt sich die Frage erneut, warum der Stärkere nicht einfach tun sollte, was ihm gerade beliebt. Wir sind sozusagen alle in der Position von Kilgrave, zumindest manchmal.

Gibt es also solche Gründe? Eine Frage, die gleich zu weiteren Problemen führt. Was ist überhaupt ein Grund,  worin besteht praktische Rationalität usw.? Das kann alles sehr komplex werden, der Kern der Frage bleibt aber ganz einfach: Kann man Kilgrave Argumente nennen, die ihn eigentlich überzeugen und vielleicht sogar motivieren müssten, sich ab sofort moralisch zu verhalten? Und wenn nicht, wäre es dann nicht umgekehrt für jeden von uns vernünftig, sich immer dann von moralischen (bzw. rechtlichen) Erwägungen zu lösen, wenn man es voraussichtlich ohne größere Nachteile tun kann. Ich weiss es bis heute nicht, doch in mir nagt die Vermutung, dass Kilgrave und Glaukon Recht haben. Nur eines scheint mir klar: die Frage ist existenziell wichtig. Stay tuned. 

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