15. April 2016

Meritokratie - again

Manche Menschen sind der Meinung, dass sie ihre Position, ihren Status oder ihren Wohlstand verdient hätten. Hierin ist implizit die Aussage enthalten, dass andere, die es nicht so weit gebracht haben, diese schönen Dinge nicht oder zumindest weniger verdienten. In einem kürzlichen Post habe ich die Ansicht vertreten, dass Lebenswege etwas durchaus Zufälliges haben. Für mich spricht das prima facie schon mal dagegen, dass die einen mehr verdienen und bekommen sollten als die anderen. Aber natürlich ist das Thema damit nicht erschöpft.
Überlegen wir also weiter, ob und inwieweit Menschen ihren Erfolg bzw. Misserfolg verdienen bzw. ob eine Gesellschaft das reflektieren sollte, indem sie meritokratisch aufgebaut ist. Drei erstmal plausibel wirkende Argumente (im Gegensatz zu unplausiblen Argumenten wie bloße Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht) könnten vorgebracht werden, um privilegierte Stellungen zu rechtfertigen:

Arbeitsmenge
Richtig ist, dass erfolgreiche Menschen oft sehr viel für ihren Erfolg arbeiten. Damit sollten sie sich allerdings nicht überschätzen. Auch andere Menschen arbeiten viel, manchmal vielleicht sogar mehr und vor allem härter, z.B. die Putzfrau mit zwei Jobs, weil das Geld von einem nicht reicht. Solche Jobs sind oft auch sehr viel unangenehmer, wofür es bei uns seltsamerweise keine Kompensation zu geben scheint. Trotzdem ist sie ganz unten und der Manager in einer Bank oder der Abteilungsleiter in einem Ministerium sind ganz oben. Mit Menge und Härte der Arbeit hat das aber nichts zu tun.

Verantwortung
Der Manager und Abteilungsleiter könnten jetzt darauf hinweisen, dass ihre Arbeit wertvoller oder wichtiger sei. Was genau macht deren Tätigkeit wichtiger? Möglicherweise sind es die Auswirkungen, die ihre Entscheidungen auf andere haben. Erfolgreiche Leute tragen oft mehr Verantwortung, d.h. sie treffen Entscheidungen mit Konsequenzen für viele, bei unwichtigen ist es andersrum. Allerdings präsentieren sich auch hier sofort offensichtliche Einwände. Erstens, viele Berufe haben enorme Auswirkungen auf andere und werden in Geld und Ansehen trotzdem nur durchschnittlich oder sogar schlecht bezahlt, z.B. Lehrer oder Busfahrer. Zweitens kann mit dem Hinweis auf die größere Verantwortung ja wohl nur gemeint sein, dass Karriereleute ihr Geld, ihren Status usw. deshalb verdienen, weil sie diese Verantwortung auch besonders erfolgreich im Dienste des Unternehmens oder der Öffentlichkeit ausüben. Warum sollte jemand viel Geld, Status und Privilegien genießen, wenn sie/er vorwiegend großen Schaden anrichtet? In der Realität scheint sich das leider mitunter entkoppelt zu haben, der Abteilungsleiter im Ministerium kann noch so eine Flachpfeife sein, er bleibt trotzdem in seiner Gehaltsstufe. Oder Manager bekommen auch dann einen Bonus, wenn sie üblen Schaden angerichtet haben – siehe VW oder diverse Banken. Wo also ist die Erfolgskontrolle bzw. die Verknüpfung von Privileg mit dem Nutzen? Es macht jedenfalls nicht zwingend den Eindruck, als gäbe es hier einen verlässlich engen Zusammenhang. Und drittens, damit verbunden, ich bin mir ganz und gar nicht sicher, welche Auswirkungen, egal ob positiv oder negativ, viele scheinbar erfolgreiche Menschen überhaupt haben. So manche Position könnte man m.E. ersatzlos streichen, und im Grunde würde es niemand merken. Wozu braucht man im Zeitalter von Emails, Videokonferenzen und – falls nötig – rund um die Uhr verfügbaren Flugverbindungen eigentlich noch Botschafter? Wozu braucht man Universitäten und Professoren, wenn man genauso gut einen Online-Kurs besuchen kann? Diese Positionen waren einmal wichtig, lukrativ und prestigereich, inzwischen sind sie nur noch lukrativ und prestigereich.

Besondere Fähigkeiten
Die dritte Möglichkeit ist zu sagen, man verdiene mehr als andere, weil man etwas besonders Schwieriges tue. Putzen oder Busfahren könne jeder, eine Abteilung führen oder komplizierte Devisengeschäfte zu beaufsichtigen, vermögen aber nur die wenigsten.
Das stimmt. Nun ist fast jeder in irgendwas besonders gut, wörtlich genommen, müssten nach dieser Logik also fast alle auch besonders viel verdienen, und sei es nur auf Grund der Fähigkeit, hunderte von Biersorten unterscheiden zu können. Was in unserer Gesellschaft hinzukommen muss, ist die entsprechende Nachfrage. Vor hundert Jahren wäre der Fußballer Ronaldo vielleicht die Attraktion auf einem Jahrmarkt gewesen, heute verdient er aufgrund der exakt selben Gabe zig Millionen im Jahr. Nachfrage bzw. Gesellschaften ändern sich und Fähigkeiten, die zu einer Zeit gefragt sind, sind einige Zeit später uninteressant bzw. umgekehrt. Daraus folgt, dass auch Verdienst bzw. seine Belohnungen relativ sind, nämlich bezogen auf die Anforderungen und Werte einer bestimmten Kultur, in der die korrelierenden Fähigkeiten besonders hochgeschätzt werden. Das gilt im Großen wie im Kleinen. Auch die Abteilungsleiterin macht z.B. deshalb Karriere, weil bestimmte Eigenschaften in dem Mikrokontext einer bestimmten Organisation zu einem bestimmten Zeitpunkt besonders gewünscht sind. Zu einer anderen Zeit wären es andere Eigenschaften, z.B. ein anderes Parteibuch, ein anderer Führungsstil, mehr Trinkfestigkeit, ein anderes Geschlecht usw. Sie selbst und ihre Fähigkeiten wären aber völlig gleich.

Sollten Leute also mehr verdienen (im doppelten Wortsinn) als andere, weil sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren? Damit würde man auf jedes inhaltliche Kriterium von Verdienst verzichten. Im Gegenteil kommt ein starkes Moment von Relativismus, Zufall und Willkür hinein.

Ergebnis: Die Verteilung von Privilegien scheint in hohem Maße nicht an rational nachvollziehbare Kriterien geknüpft. Was folgt hieraus? Mir fallen vier Bemerkungen ein, die ich aber nur ganz kurz anschneiden will:

Erstens: Wer oben ist, darf dankbar sein, sollte sich aber nicht zuviel einbilden. In einem Paralleluniversum wäre er/sie Busfahrer oder Obdachloser.

Zweitens: Der Begriff der Meritokratie ist fragwürdig. Er setzt voraus, dass tatsächlich eine Bestenauslese stattfindet und verknüpft diese mit Belohnungen. Hieran habe ich größere Zweifel. Insoweit halte ich es auch für fragwürdig, eine Gesellschaft auf diesem Gedanken aufzubauen.

Drittens: Die Verwendung dieses Begriffs hat eine den status quo unterstützende, also herrschaftsstabilisierende Funktion.


Viertens: Man könnte versuchen, besondere Privilegien (Einkommen, Status usw.) inhaltlich zu begründen, also zumindest im öffentlichen Sektor mit dem allgemeinen Nutzen. Dazu müsste man die Dinge alle mal auf den Prüfstand stellen und genau abwägen, in welchen Positionen am meisten Nutzen geschaffen wird und diese dann – bei Erfolg – mit bestimmten Belohnungen ausstatten. Hier würden dann möglicherweise Positionen, die derzeit wenig Belohnungen bieten, sehr attraktiv werden, insbesondere im sozialen Bereich. Man könnte aber auch einfach Privilegien wie z.B. private Krankenversicherung abschaffen bzw. Einkommen stärker nivellieren. Das wäre vielleicht die einfachere Lösung. 

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