So jedenfalls die These von Hans-Olaf Henkel, der auf Twitter gestern Merkels „Willkommenspolitik“ für den britischen EU-Austritt direkt
verantwortlich gemacht hat. Und es stimmt, die Ablehnung von Einwanderung bzw.
überhaupt des Fremden war das beherrschende Motiv der Leave-Kampagne. Hätte man
in den letzten Jahren eine konsequente Begrenzung des Flüchtlingszustroms nach
Europa – vulgo: die Flüchtlinge ausgesperrt und sich selbst überlassen –
durchgeführt, so die Logik der Argumentation, wäre es zum Brexit nicht
gekommen.
Ein Blick auf die Fakten: Nach Großbritannien sind im
letzten Jahr 630.000 Menschen zu- und 300.000 Menschen abgewandert. Neben der
Migration von Briten, die im jetzigen Kontext irrelevant ist, halten sich EU-
und Nicht-EU-Bürger sowohl bei Zu- wie bei Abwanderung etwa die Wage, d.h. die Zuwanderung von Nicht-Briten nach
Großbritannien besteht zu 50% aus EU-Bürgern, und zwar besonders stark aus osteuropäischen
EU-Mitgliedern, insbesondere Polen. Nur 4% der Migranten nach Großbritannien
sind Asylbewerber, die Zuwanderung aus Ländern wie Eritrea oder Syrien bewegt
sich gerade mal im niedrigen vierstelligen Bereich. Tatsächlich richtet sich
der Volkszorn in Großbritannien bzw. England in hohem Maße genau gegen diese
EU-Einwanderer aus Osteuropa, die bereits seit vielen Jahren kommen, um dort im
Niedriglohnbereich (Bau, Gaststätten usw.) zu arbeiten.
Fakten sind das eine, Gefühle etwas anderes. Trotzdem ist Henkels
These angesichts des tatsächlichen Sachverhalts nicht sehr überzeugend. Der
EU-Austritt hat mindestens ebensoviel mit der Zuwanderung aus der EU selbst zu
tun wie mit der Flüchtlingspolitik, zumal der eines ganz anderen Landes. Dazu
passt auch, dass während der Kampagne neben der angeblichen Fremdbestimmung aus
Brüssel der angeblich unmittelbar bevorstehende EU-Beitritt der Türkei eine sehr
große Rolle spielte, was zur Folge hätte, dass nach Polen und Rumänen auch
Türken irgendwann frei einwandern könnten. Die Brexit-Befürworter wollten dagegen
raus aus einer Union, die den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen und –
vor allem – Personen garantiert.
Die britische – und angesichts der Stimmenverteilung muss
man sagen, die englisch-walisische – Entscheidung scheint mir eher mit dem gegenwärtigen
Kulturkampf in Europa und den USA zu tun zu haben. Ein großer Teil der englischen,
deutschen, französischen, niederländischen, österreichischen, osteuropäischen und
amerikanischen Bürger sind in offenem Protest gegen die linksliberale
Lebensweise in Europa und USA. Vor allem wollen sie keine Fremden, sie wollen
keine anderen Hautfarben, keine anderen Religionen und keine Multikulturalität.
Sie möchten zurück in eine als schöner und besser empfundene Vergangenheit. Wenn
man sich die Phänomene in diesen Ländern aber näher anschaut, wird schnell
klar, dass sich noch weitere Motive und Inhalte mit dieser Einstellung verbinden.
Dazu zählen das Infragestellen von Grundrechten, zumindest wenn als fremd
empfundene Menschen davon Gebrauch machen, dazu zählt eine Neigung zu autoritärer
Politik und dazu zählt dementsprechend auch eine Bereitschaft, Presse und Unabhängigkeit
der Justiz einzuschränken. Um Rationalität und Argumente geht es längst nicht
mehr. Die Botschaften zielen auf Gefühle, vor allem auf niedere. Cornwall zum
Beispiel hat sehr klar für den Austritt gestimmt, obwohl die Gegend, und das weiß
dort auch jeder, seit Jahren von EU-Geldern lebt. Lieber arm, aber dafür nationalistisch.
Der rationale und informierte Diskurs wird vielmehr mit den verhassten Eliten
verbunden, von denen man die Schnauze längst voll hat. Roger Cohen hat heute in
einem sehr lesenswerten Kommentar in der New York Times (http://www.nytimes.com/2016/06/25/opinion/britains-brexit-leap-in-the-dark.html?rref=collection%2Fcolumn%2Froger-cohen&action=click&contentCollection=opinion®ion=stream&module=stream_unit&version=latest&contentPlacement=1&pgtype=collection&_r=0)
zutreffend formuliert, dass Irrationalität in der Luft liege. Das stimmt, und
Irrationalität ist mächtig, ich glaube sehr mächtig. Sie hat vorgestern einen
großen Sieg davon getragen und das war vermutlich noch nicht das Ende. Ergebnis
offen.
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