25. Juni 2016

Ist Merkel schuld am Brexit?

So jedenfalls die These von Hans-Olaf Henkel, der auf Twitter gestern Merkels „Willkommenspolitik“ für den britischen EU-Austritt direkt verantwortlich gemacht hat. Und es stimmt, die Ablehnung von Einwanderung bzw. überhaupt des Fremden war das beherrschende Motiv der Leave-Kampagne. Hätte man in den letzten Jahren eine konsequente Begrenzung des Flüchtlingszustroms nach Europa – vulgo: die Flüchtlinge ausgesperrt und sich selbst überlassen – durchgeführt, so die Logik der Argumentation, wäre es zum Brexit nicht gekommen.

Ein Blick auf die Fakten: Nach Großbritannien sind im letzten Jahr 630.000 Menschen zu- und 300.000 Menschen abgewandert. Neben der Migration von Briten, die im jetzigen Kontext irrelevant ist, halten sich EU- und Nicht-EU-Bürger sowohl bei Zu- wie bei Abwanderung etwa die Wage, d.h. die Zuwanderung von Nicht-Briten nach Großbritannien besteht zu 50% aus EU-Bürgern, und zwar besonders stark aus osteuropäischen EU-Mitgliedern, insbesondere Polen. Nur 4% der Migranten nach Großbritannien sind Asylbewerber, die Zuwanderung aus Ländern wie Eritrea oder Syrien bewegt sich gerade mal im niedrigen vierstelligen Bereich. Tatsächlich richtet sich der Volkszorn in Großbritannien bzw. England in hohem Maße genau gegen diese EU-Einwanderer aus Osteuropa, die bereits seit vielen Jahren kommen, um dort im Niedriglohnbereich (Bau, Gaststätten usw.) zu arbeiten.

Fakten sind das eine, Gefühle etwas anderes. Trotzdem ist Henkels These angesichts des tatsächlichen Sachverhalts nicht sehr überzeugend. Der EU-Austritt hat mindestens ebensoviel mit der Zuwanderung aus der EU selbst zu tun wie mit der Flüchtlingspolitik, zumal der eines ganz anderen Landes. Dazu passt auch, dass während der Kampagne neben der angeblichen Fremdbestimmung aus Brüssel der angeblich unmittelbar bevorstehende EU-Beitritt der Türkei eine sehr große Rolle spielte, was zur Folge hätte, dass nach Polen und Rumänen auch Türken irgendwann frei einwandern könnten. Die Brexit-Befürworter wollten dagegen raus aus einer Union, die den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen und – vor allem – Personen garantiert.
Brexit, Europäische Union, Eu, Großbritannien, Europa

Die britische – und angesichts der Stimmenverteilung muss man sagen, die englisch-walisische – Entscheidung scheint mir eher mit dem gegenwärtigen Kulturkampf in Europa und den USA zu tun zu haben. Ein großer Teil der englischen, deutschen, französischen, niederländischen, österreichischen, osteuropäischen und amerikanischen Bürger sind in offenem Protest gegen die linksliberale Lebensweise in Europa und USA. Vor allem wollen sie keine Fremden, sie wollen keine anderen Hautfarben, keine anderen Religionen und keine Multikulturalität. Sie möchten zurück in eine als schöner und besser empfundene Vergangenheit. Wenn man sich die Phänomene in diesen Ländern aber näher anschaut, wird schnell klar, dass sich noch weitere Motive und Inhalte mit dieser Einstellung verbinden. Dazu zählen das Infragestellen von Grundrechten, zumindest wenn als fremd empfundene Menschen davon Gebrauch machen, dazu zählt eine Neigung zu autoritärer Politik und dazu zählt dementsprechend auch eine Bereitschaft, Presse und Unabhängigkeit der Justiz einzuschränken. Um Rationalität und Argumente geht es längst nicht mehr. Die Botschaften zielen auf Gefühle, vor allem auf niedere. Cornwall zum Beispiel hat sehr klar für den Austritt gestimmt, obwohl die Gegend, und das weiß dort auch jeder, seit Jahren von EU-Geldern lebt. Lieber arm, aber dafür nationalistisch. Der rationale und informierte Diskurs wird vielmehr mit den verhassten Eliten verbunden, von denen man die Schnauze längst voll hat. Roger Cohen hat heute in einem sehr lesenswerten Kommentar in der New York Times (http://www.nytimes.com/2016/06/25/opinion/britains-brexit-leap-in-the-dark.html?rref=collection%2Fcolumn%2Froger-cohen&action=click&contentCollection=opinion&region=stream&module=stream_unit&version=latest&contentPlacement=1&pgtype=collection&_r=0) zutreffend formuliert, dass Irrationalität in der Luft liege. Das stimmt, und Irrationalität ist mächtig, ich glaube sehr mächtig. Sie hat vorgestern einen großen Sieg davon getragen und das war vermutlich noch nicht das Ende. Ergebnis offen. 

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