21. März 2016

Wer hat schon das Leben, das sie/er verdient?

Auf meinem Weg zur und von der Arbeit nehme ich die U8. Diese U-Bahn-Linie führt (für diejenigen, die Berlin nicht kennen) durch Neukölln, vorbei am Kottbusser Tor, dem östlichen Teil von Mitte über Alexanderplatz weiter nach Wedding, alles, wenn man von einzelnen Punkten absieht, weitgehend Stadtviertel mit wenig Geld und teilweise erheblichen sozialen Problemen. Das wirkt sich auch auf die U-Bahn aus.
Man trifft oft auf ziemlich kaputte Gestalten und gerade morgens ist es ganz normal, im Laufe einer Fahrt mehrfach angesprochen zu werden, ob man nicht eine kleine Spende oder etwas zu essen erübrigen könne. Abends ist die U8 dagegen so voll, dass kaum ein Durchkommen ist; Bettler oder Verkäufer von Straßenmagazinen trifft man dann jedenfalls kaum.

Auch heute Morgen bin ich wieder um eine Spende gebeten worden. Ein Mann, Deutscher, so Mitte 40, der von seinem Hygienezustand her mindestens die letzte Nacht auf der Straße verbracht zu haben schien, also ein wenig verdreckt. Auffallend an ihm war, dass er sofort den Eindruck einer überdurchschnittlich intelligenten Person vermittelt hat. Ich weiß nicht genau, woran ich das festgemacht habe, sicher sein klares, fehlerfreies Deutsch, auch die Art der Betonung, aber der Mann hatte einfach insgesamt etwas Waches an sich, das ihn gegenüber den meisten seiner Kollegen, sogar gegenüber den meisten Menschen, auf die man im Laufe eines Tages so trifft, abhob.

Wie kommt er dann in so eine Lage? Keine Ahnung, ich habe ihn nicht gefragt. Besser nicht mit diesen Leuten reden, ist der allgemeine Impuls, das kann nur schiefgehen. Vermutlich eine Mischung aus eigenen Fehlern und Pech. Genauso wie Menschen, die eine hohe Position erreicht haben, irgendwann Aufsichtsratsmandate, lukrative Vortragsangebote usw. nachgeschmissen bekommen, stelle ich mir vor, dass ein ähnlicher, sich selbst verstärkender Prozess einsetzt, wenn man erstmal unten ist. Anders als bei Reichen, haben Menschen im unteren Fünftel der Gesellschaft einfach weniger, auf das sie sich stützen können, ihr Leben ist fragiler. Und wenn dann irgendwas kommt, was in der Mittel- oder Oberschicht aufgefangen würde (Krankheit, Trennung, Jobverlust, Drogensucht, abgebrochene Ausbildung), dann fliegen Menschen weiter unten stattdessen leichter aus der Kurve.

Viele werden selbst kräftig dazu beigetragen haben, ihr Leben in den Sand zu setzen – selbstverständlich, das sind nicht alles unschuldige Opfer böser Umstände. Aber es macht einen riesigen Unterschied, in welchen Verhältnissen man ist, wenn man seine Fehler macht. Ich glaube nicht, dass jeder sozusagen das Leben hat, das er/sie verdient. Die, die oben sind, sind oft bei weitem nicht so toll, wie sie glauben, und die, die unten sind, sind nicht nur erbärmliche Versager. Die Verteilung hat auch mit Faktoren zu tun, für die die Betreffenden gar nichts können.

Der Mann lief durch den ganzen Wagon, bis er zu mir kam. Keiner hatte ihm was gegeben. So habe ich das als abgebrühter Großstädter auch jahrelang gemacht. Seit einiger Zeit bin ich aber wieder dazu übergegangen, 50 Cent oder einen Euro zu geben. Weiß nicht, ob er sich davon einen Kaffee kauft oder auf seinen nächsten Schuss spart, ist auch nicht wichtig. Leicht hat der Typ es jedenfalls nicht. Im Verhältnis zu ihm bin ich dagegen unermesslich reich, obwohl auch ich in meinem Leben wahrlich genug Fehler gemacht habe. Dann ist es okay, ein klein wenig zu unterstützen.  

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