6. April 2016

Rätselhafte Strategie des Islamischen Staats

Ich versuche derzeit zu verstehen, warum der IS sich entschlossen hat, Anschläge in Europa durchzuführen. Die öffentliche Diskussion gibt sich zu schnell mit einer Haltung zufrieden, die ungefähr besagt: „Weil Terrorgruppen nun mal so etwas machen“. Das führt aber überhaupt nicht weiter.
Terrorismus ist – zumindest klassischerweise – eine Kommunikationsstrategie. Die punktuelle Gewalt soll einen Gegner dazu veranlassen, sein Verhalten im Sinne der Terrorgruppe zu ändern bzw. eigene Anhänger mobilisieren. Die Anschläge finden ja wahrscheinlich nicht zufällig in Paris, Brüssel und vermutlich irgendwann auch woanders statt. Mit dieser Logik könnte der IS mehr oder weniger jedes Ziel angreifen, Hauptsache, es gibt viele Tote, Ziel erreicht.

Eine große Schwierigkeit bei der Sache ist, dass unklar ist, ab wann der IS europäische Ziele ins Visier nahm. Erst seit Paris, also sagen wir, wenn wir die Vorbereitungszeit berücksichtigen, ca. seit letztem Sommer, oder schon davor? War z.B. der Anschlag auf das jüdische Museum in Brüssel  im Mai 2014 nur die Tat eines IS-Sympathisanten oder vom IS in Raqqa selbst in irgendeiner Weise beauftragt worden? Das Datum ist hier wichtig. Mai 2014 ist nämlich noch knapp bevor der IS weite Gebiete im Irak eroberte, ein Völkermord an den Yesiden drohte und die USA ihre ersten Luftangriffe gegen den IS flogen. Wenn die IS-Führung schon damals europäische Ziele angreifen wollte, handelt es sich ergo nicht um irgendwelche Racheakte gegen die Mitglieder der von den USA angeführten Militärkoalition, sondern es wäre schon viel länger Teil der IS-Strategie.

Das würde es umgekehrt aber auch rätselhafter machen. Das zentrale IS-Projekt eines Kalifats kann jedenfalls durch solche Angriffe nur gefährdet werden, insbesondere wenn überhaupt kein weiterer Anlass besteht. Man sollte denken, der IS hätte allen Grund, den Westen in Ruhe zu lassen, um in Ruhe seine Herrschaft in Syrien bzw. dem Irak zu konsolidieren. Das wäre schon anspruchsvoll genug. Welches Ziel sollte mit Anschlägen aus heiterem Himmel, also immer unter der Prämisse, dass Angriffe gegen westliche Ziele schon immer zum Plan gehörten, erreicht werden? Ich verstehe es nicht.

Abu Bakr al-Baghdadi aka Scheich Ibrahim, oberster Chef vom IS
Quelle Wikimedia Commons

Nehmen wir jetzt aber umgekehrt mal an, bei Paris und den jüngsten Anschlägen in Brüssel handele es sich doch vor allem um Reaktionen auf das militärische Vorgehen gegen den IS. Das ergäbe insofern Sinn, als der IS gehörig unter Druck geraten ist und u.a. auf diese Weise Handlungsfähigkeit demonstrieren bzw. Rache nehmen könnte. Aber auch dann ist Einiges schief. Zum ersten ist  Belgien zwar formal Teil dieser Koalition, ist aber schon seit letztem Sommer nicht mehr aktiv und hat seine sechs F-16 Kampfflugzeuge aus der Region längst wieder abgezogen. Und wäre es zweitens nicht sinnvoller, unter diesen Vorzeichen vor allem gegen US-amerikanische Ziele vorzugehen, schließlich sind die USA der Initiator dieser Angriffe und tragen militärisch mit Abstand die Hauptlast. Es ist jedenfalls sehr wenig wahrscheinlich, dass die USA sich von weiteren Luftangriffen abschrecken lassen, weil der IS beschlossen hat, eine belgische U-Bahn in die Luft zu sprengen. Im Gegenteil.

Kann natürlich sein, dass amerikanische Ziele zu schwierig sind. Man nimmt also Belgien oder Brüssel, weil es dort einfacher ist, nicht weil das Ziel selbst besonders viel Sinn ergibt. Die Attentäter kennen sich aus, haben eine belgische oder französische Staatsangehörigkeit, können auf Hilfe von Sympathisanten rechnen und wollen aus Kränkung oder anderen Motiven womöglich auch etwas gegen ihre früheren Heimatgesellschaften unternehmen. Der IS brächte also z.B. 130 Menschen um, weil er irgendwie gegen die „Kreuzfahrer“ ist und es am Ende dann doch nicht so wichtig ist, wen genau er trifft. Anders als bei dem Linksterrorismus der 70er und 80er, wo in jedem Falle eine extrem präzise kalkulierte Zielauswahl stattgefunden hat, wäre der jetzige Terrorismus also im Gegenteil durch einen zombiehaften Nihilismus geprägt. Hauptsache Töten.

Trotzdem, etwas in mir sträubt sich zu akzeptieren, dass die militärisch hartgesotteneund jihadpolitisch erfahrene IS-Führung wirklich nur einem blinden Tötungsimpuls folgt und Anschläge gegen westliche Ziele nicht mit weiteren Absichten verbindet. Möglicherweise liegt die Antwort in dem Stichwort „Mobilisierung“ verborgen. Ich muss weiter nachdenken. T.b.c.

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