3. Juni 2016

Kulturkampf in Deutschland

Die Diskussionen in Deutschland, anderen europäischen Ländern, aber auch den USA um Rechtspopulismus, Migration, politische Korrektheit usw. haben, neben den vielen konkreten Fragen, um die es geht, auch ein tieferes Thema, nämlich: wie verstehen wir uns und unsere Gesellschaft? Hier gibt es, stark vereinfachend, zwei große Lager. Auf der einen Seite steht, was man als Linksliberalismus bezeichnen kann. Für diese Gruppe spielen Dinge wie Herkunft oder Nationalität keine besondere Rolle mehr, ob jemand oder etwas deutsch oder nicht-deutsch, amerikanisch oder nicht-amerikanisch ist, ist uninteressant und weder eine Auszeichnung noch ein Nachteil. Es sind alles Menschen mit je eigenen positiven und negativen Eigenschaften.
14. Juli 1789, die Geburtsstunde der liberalen Welt
Gesellschaft ist nach dieser Sicht eine Ansammlung von Individuen, die erst mal wenig gemein haben müssen, im Gegenteil, jeder darf und soll so sein, wie sie/er ist. Wichtig ist nur, dass man sich an bestimmte grundlegende Regeln hält, insbesondere daran, dass man auch andere respektiert und so leben lässt, wie sie es wollen. Aus diesem Motiv heraus wird dann für die Gleichberechtigung der Frau, die Einführung der Homoehe und weitere emanzipatorische Anliegen gestritten. Was eine in diesem Sinne verstandene Gesellschaft der Individuen weder hat noch braucht, ist eine tiefer liegende Homogenität oder Identität. Eine solche Identität wäre künstlich und somit oktroyiert, was dem individualistisch-emazipatorischen Ansatz völlig widerspricht. Habermas hat diese Sicht einmal mit dem Wort „Verfassungspatriotismus“ zusammengefasst, d.h. der Patriotismus gilt nicht einer bestimmten Gruppe, z.B. einer Ethnie oder einer Nation (sofern es so was überhaupt gibt), sondern nur den Regeln, nach denen man zusammenlebt und die natürlich besser oder schlechter gestaltet werden können. Wer da aber zusammenlebt, ist egal, Hauptsache, das Normengefüge stimmt. Deswegen ist es auch kein Problem, wenn neue Bürger dazukommen. Natürlich gibt es praktische Fragen, die zu klären sind, aber prinzipiell ist Gesellschaft offen. Diese individualistisch-emanzipatorische Sicht geht  auf die Aufklärung zurück, wo Staat und Gesellschaft vom Einzelnen und seinen Rechten und Bedürfnissen her konzipiert werden und es und in der Französische Revolution dann genau darum ging, das Individuum aus seinen hergebrachten Ketten zu befreien.

Neuschwanstein. Ausdruck der Sehnsucht nach einer heilen Vergangenheit, die es niemals gegeben hat.
Genau diese fehlende Homogenität, eine Art gemeinsamer Identität, vermissen aber die Vertreter der anderen Seite. Für sie macht es einen sehr großen Unterschied, ob jemand der eigenen "Gruppe" angehört oder nicht. Allein diese Einordnung ist für sie Grund, jemanden bevorzugt zu behandeln oder eben nicht. Wer von außen kommt, sieht anders aus, spricht eine andere Sprache, ist in anderen Traditionen verankert, kurz er ist fremd und kann deshalb nicht dazu gehören. Gesellschaft wird hier im Grunde als geschlossen betrachtet, das genaue Gegenteil der liberalen Sicht. Demgemäß fühlen sich Konservative durch Zuwanderung bedroht. Zuwanderung bedeutet, dass viele Fremde kommen. Das ist erstmal schon an sich schlecht. Zudem wird ganz zwangsläufig ihre Gruppe, ihr Stamm, ihre Nation, ihre Werte an Bedeutung verlieren. Das betrifft konkrete Interessen, z.B. die Sporthallen, die jetzt für Flüchtlinge, also für Fremde, statt für die eigenen Kinder genutzt werden, es betrifft aber auch die Geltung einer bestimmten Lebensweise, die sie als die eigentlich wünschenswerte wahrnehmen und von der sie nicht möchten, dass sie in Frage gestellt wird und sei es nur im Straßenbild. Sie wünschen sich eine Gesellschaft, die nicht nur durch ein abstraktes Normengerüst zusammengehalten wird, sondern durch eine tiefer liegende Identität, angefangen von der gemeinsamen Ethnizität bis hin zu gemeinsamen Traditionen und einer gemeinsamen Lebensweise. Anders gesagt, sie verstehen und wünschen sich Gesellschaft als Heimat, als etwas wo man dazugehört und wo man ein Stück weit aufgehoben ist. Und so wie andere ihre Gesellschaft haben, mit ihren eigenen Werten und Traditionen, möchten auch sie ihre eigene haben, ebenfalls mit Gemeinsamkeiten, die über die bloße Staatsbürgerschaft hinausgehen. Diese Sichtweise entstammt der Gegenreaktion auf die Aufklärung, der Romantik, Die damit beschriebene Gefühlslage ist der liberalen Seite wiederum völlig fremd, angesichts einer bunten, vielfältigen Welt wird eine übergreifende Gemeinsamkeit nicht als organisch oder schützend, sondern als erzwungen und lebensfremd empfunden. 

Wald, Natur, Landschaft, Bäume, Gelb, Gold, Märchen
Wald, Sehnsuchtsort der deutschen Seele. Hier ist alles rein und gut.
Die konservative Seite hat in den letzten Jahrzehnten sehr viel Boden verloren. Alle möglichen Traditionen sind für immer über Bord gegangen. Manches, was stattdessen gekommen ist, wirkt dagegen eher verstörend als befreiend (angefangen mit den Hippies und Revolten der 60er über Drogen, Punks mit Ratten als Haustier, aggressiver Feminismus, Schwule knutschen in der Öffentlichkeit, in Mozart-Opern treten die Sänger nicht mit gepuderter Perücke, sondern völlig nackt auf usw.). Frühere Werte, die Halt gegeben haben, gelten nichts mehr, die Leute tun, was sie wollen, Dreck auf den Straßen, Frauen in Vollverschleierung. Von einer gemeinsamen Identität, von Zusammengehörigkeit sind wir, vor allem in den großen Städten, inzwischen weit entfernt. Und jetzt reicht es, finden sie. Irgendwo ist Schluss, erst recht, wenn nunmehr auch noch die Zusammensetzung unserer Gesellschaft dramatisch kippt, wenn plötzlich hunderttausende, vielleicht Millionen Araber kommen und viele bleiben. Sie sind Deutsche, sie sind hier aufgewachsen, aber sie fühlen sich an den Rand gedrängt. Der linksliberalen Seite dagegen macht all das nichts weiter aus. Für sie ist es normal, sogar belebend, wenn Gesellschaft chaotisch und widersprüchlich ist. Die massive Einwanderung führt ganz sicher zu teils gravierenden praktischen Problemen, trifft aber im Gegensatz zur konservativen Seite nicht auf grundsätzliche Einwände. Für Liberale ist das eine großartige Gelegenheit, unsere katastrophale Alterspyramide zu korrigieren. Wichtig ist nur, dass die Neuankömmlinge integriert werden, soll heißen, Job und Wohnung, aber natürlich auch das Anerkennen der grundlegenden Regeln, also im wesentlichen der FDGO. Wenn es um Angriffe auf Frauen, wie etwa in Köln geht, hört auch bei den Linksliberalen meist der Spass auf. 

Berlin-Kreuzberg: Hauptstadt der Linksliberalen. Die Grünen gewinnen hier regelmäßig die absolute Mehrheit.
Natürlich ist das alles vereinfacht, die Wirklichkeit hat wie immer tausend Schattierungen. Trotzdem, diese beiden großen Lager gibt es und eine Verständigung zwischen ihnen scheint schwierig, mitunter aussichtslos. Die unterschiedlichen Verständnisse von Gesellschaft sind zu konträr und die Fronten sind inzwischen auch ziemlich verhärtet. Ich denke, auf Dauer werden sich die Linksliberalen wieder durchsetzen. Sie sind zahlenmäßig stärker, zumindest in Deutschland, und ihr Gesellschaftsverständnis ist am Ende auch realistischer. Die Konservativen holen aber auf und zwar gewaltig. Ich bin sehr gespannt, ob sie die Oberhand bekommen. 

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