31. Juli 2016

Denker des Terrors - Sergej Netschajew

Sergej Netschajew war eine ziemlich verkrachte Existenz. Bekannt geworden als Führer einer radikalen Studentengruppe, musste er ins Ausland fliehen, freundete sich mit Bakunin an, der sich später wieder von ihm distanzierte, schrieb 1869 mit 22 Jahren den Katechismus des Revolutionärs, kehrte nach Russland zurück, gründete eine neue radikale Kleingruppe, ermordete mit anderen einen abtrünnigen Genossen und setzte sich wieder in die Schweiz ab, wo er später verhaftet und an Russland ausgeliefert wurde. Damit sind seine politischen Handlungen in ihrer Gesamtheit beschrieben. Er starb mit 35 Jahren im Gefängnis.

Dass er trotzdem berühmt geworden ist, hat zwei Gründe. Zum einen hat Netschajew eine starke Faszination auf Dostojewski ausgeübt, der seine Figur sowie die den von ihm verübten Mord in den Dämonen verarbeitet hat.
Und zum zweiten der gerade mal eine Handvoll Seiten umfassende Katechismus, in dem Netschajew in 26 kurzen Abschnitten skizziert, was das Ziel der Revolution ist, auf welchem Wege man dahin kommt, welche Rolle die Avantgarde der Berufsrevolutionäre dabei zu spielen und welchem Kodex sich ein Revolutionär zu unterwerfen hat.

Dieser bemerkenswerte Text zeichnet sich durch eine unversöhnliche und hasserfüllte Kompromisslosigkeit aus. Netschajew fordert, dass der Revolutionär alles, seine Gefühle, seine Bindungen, sein eigenes Schicksal, aber natürlich auch das Leben anderer dem Umsturz unterordnet. Was dieses Ziel befördert, ist richtig, was es behindert oder aufhält, verboten. Mit herkömmlichen Anschauungen, mit Gesetzen und moralischen Normen hat der Revolutionär konsequent gebrochen, er ist stattdessen von einem tiefen Hass auf alles, was man Zivilisation nennt, beseelt. Selbst unbarmherzig, erwartet der Revolutionär auch seinerseits keine Gnade. Seine eigene Vernichtung nimmt er in Kauf.

Hingabe, Selbstopferung, Skrupellosigkeit, Hass, Zerstörung. Netschajew sollte sich als Visionär erweisen, denn was er beschreibt und fordert, ist der Typus des modernen Terroristen. Bereits die Linksterroristen der 70er und 80er zeigen diese Eigenschaften. Ihr Hass auf das System ist absolut, ihr ganzes Trachten geht danach, es zu stürzen, und wenn ihnen die Waffen genommen werden, dann können sie sich immer noch selbst umbringen, um zumindest den Staat nachhaltig zu diskreditieren. Selbstmordattentäter von heute gehen denselben Weg, nur noch destruktiver.

Die meisten Terroristen haben allerdings wenigstens noch Ziele, jedenfalls am Anfang, eine kommunistische Gesellschaft, ein Rätesystem, die Durchsetzung der Scharia usw., also irgendeine andere Art und Weise, die Gesellschaft zu organisieren. Netschajew hat nicht einmal mehr das. Es geht nicht darum, eine bestimmte Gesellschaftsordnung durchzusetzen, sondern nur darum, den Weg für irgendeine andere Ordnung freizumachen. Das Ziel des Revolutionärs ist einfach die „furchtbare, totale universale und erbarmungslose Zerstörung“. Die gesamte staatliche Ordnung muss bis zu ihren Wurzeln vernichtet werden. Danach kann das Volk selbst sehen, wie es leben möchte. Irgendwann, vielleicht im Laufe von Generationen wird sich eine neue Organisation durchsetzen. Damit hat der Revolutionär jedoch nichts zu tun, seine Aufgabe ist vor allem die konsequente Zerstörung jeder Ordnung, der Rest ergibt sich.

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Verkrachte Existenz und Visionär des Terrors
Quelle Wikimedia Commons
Um dieses Ziel zu erreichen, propagiert Netschajew eine Strategie, die bis heute starken Einfluss auf das Denken und Vorgehen von Terrorgruppen hat. Eine kleine, verdeckt operierende Avantgarde bringt die Dinge ins Rollen. Durch wiederholte Anschläge soll eine Atmosphäre von Unsicherheit und Angst geschaffen werden, Netschajew schlägt hierfür eine konsequente Mordkampagne an Vertretern der Gegenseite vor. Dadurch soll der Staat gezwungen werden, Gegenmaßnahmen zu ergreifen, immer mehr Härte zu zeigen, seinen repressiven Charakter zu offenbaren und damit Unzufriedenheit und Widerstand in der breiten Bevölkerung zu erzeugen. Die Strategie ist, durch eine Spirale von Gewalt und Gegengewalt die Not der breiten Masse so zu steigern, dass diese schließlich von sich aus revoltiert und die endgültige Zerstörung des Systems herbeiführt. Die repressiven Maßnahmen der Gegenseite sind nicht gefürchtet, sondern erwünscht, sie sind bereits Teil des Planes und der Staat soll in eine Lage manövriert werden, wo er nicht anders kann, als zu solchen Mittel zu greifen. Je unerträglicher und je chaotischer die Zustände werden, desto erfolgreicher arbeitet der Revolutionär.

Auch diese Strategie hat Schule gemacht. Sie ist zu dem Standardvorgehen machtloser, aber zu allem entschlossener Gruppen geworden. Die RAF ist ihr gefolgt, hat die Bevölkerung dann aber nicht gegen den Staat, sondern nur gegen sich selbst aufgebracht, zugegebenermaßen immer ein Risiko bei diesem Vorgehen. Der IS verfolgt sie im Irak, wo er versucht, durch immer neue schwere Anschläge auf Schiiten einen Bürgerkrieg zwischen den mehrheitlichen Schiiten und der sunnitischen Bevölkerung auszulösen, dem die staatliche Ordnung am Ende selbst zum Opfer fällt.

Das Beispiel IS zeigt auch, wie sehr Netschajews Nihilismus das Wesen des Terrorismus erfasst und die heutige Zeit antizipiert hat. Terroristische Gruppen starten zwar immer mit bestimmten Zielen, und es gibt sogar Gruppen, die, wenn diese Ziele erreicht sind (die IRA z.B.) oder selbst, wenn die Gruppe zu der Ansicht kommt, dass die Ziele nicht zu erreichen sind (die ägyptische Gamaa Islamiya in den 90ern), den Kampf einstellen. Es gibt aber auch Gruppen, bei denen Terror nicht diese halbwegs rationale und beherrschbare Strategie ist, sondern sich sozusagen selbständig macht, Gruppen, die nicht mehr an das Utopia denken, für das sie eigentlich mal kämpfen wollten, sondern nur noch an die Zerstörung, die sie jetzt und heute anrichten können, bei denen es nicht darum geht, eine neue Gesellschaft zu bauen, sondern eine alte einzureißen, deren Ziel ist, möglichst viel zu töten und zu zerstören. Was danach kommt, bleibt im Ungefähren. Warum sprengt man einen vollbesetzten U-Bahn-Wagon in die Luft? Warum zerfetzt man die Besucher eines Einkaufszentrums? Welche Ziele kann man damit rationalerweise verfolgen? Aus diesen Taten wird nichts Konstruktives entstehen. Es gibt nur die Zerstörung selbst und das hieraus resultierende Chaos, welches dann weitere Zerstörung gebiert. Das ist das Ziel, Netschajew hat es gewusst.

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